Seit Tagen beobachten wir eine Amsel. Im 15-Minuten-Takt kommt sie in unseren Innenhof und sammelt ganz emsig und sehr erfolgreich Regenwürmer. Erst, wenn mindestens drei Prachtexemplare aus ihrem Schnabel hängen, fliegt sie leise pfeifend davon, und nach fünf Minuten ist sie wieder da. Und jeden Tag sieht sie schlechter aus. Erst erkannten wir sie an ihrer sehr schlanken Silhouette und den hervorstehen Augen, inzwischen erkennen wir sie schon im Anflug an den fehlenden Schwanzfedern und der inzwischen kahlen, fast schon blutigen Brust. Vermutlich zieht sie ein Kuckuckskind groß.
Wir ziehen auch ein Kuckuckskind groß. Es ist kein Kind und kein Kuckuck, sondern eine Herausforderung noch unbekannter Größe, die die eigentliche Brut aus dem Nest drängelt, einen unbändigen Appetit hat und uns immer wieder an Grenzen bringt. Eigentlich hatten mein Mann und ich uns schon auf das flügge werden unserer Kinder gefreut. Als dann die Fassade seiner Mutter zu bröckeln begann und eine erforderliche Vollnarkose ihr den Rest gab, stand für uns schnell fest: Wir nehmen sie bei uns auf und begleiten sie. Weil sie die Mutter meines Mannes und die Oma unserer Kinder ist, die auch immer für uns da war. Sohn Benedict war gerade ausgezogen und Tochter Merle wurde mit ihren damals 15 Jahren natürlich auch dazu befragt, hätte sich unserer Entscheidung aber kaum in den Weg stellen mögen.
Nun gibt es da also eine Person in unserer Stadtwohnung, die keine Rücksicht zu nehmen braucht – weil sie es einfach nicht kann. Ihre Wahrheiten sind nicht diskutabel und die häusliche Demokratie wurde Stück für Stück abgeschafft, unser Leben orientiert sich zunehmend an ihren Bedürfnissen. Was wir unseren Kindern schnell und gut beizubringen wussten, geht bei meiner Schwiegermutter Stück für Stück verloren. Die vaskuläre Demenz hat sie sehr verändert, ihr jetziges Verhalten passt immer seltener zu dem Bild, das im Laufe der Jahrzehnte von ihr entstanden ist.
Es ist, als käme nachts ein böser Kobold zu Besuch und entzieht ihr Informationen, die immer da waren. Und man kann diese Informationen auch nicht einfach neu hochladen. Schon wenige Wochen nach Einzug wusste sie nicht mehr, wo sie vorher über 50 Jahre gewohnt hat. Bietet man ihr die Information an, lehnt sie sie einfach ab; sie weiß ja wohl, wo sie gewohnt hat! Die Lücke zwischen „da habe ich bei meinen Großeltern gewohnt“ und „ich bin 85 Jahre alt“ wird irritiert ignoriert. Sie kaut plötzlich mit weit geöffnetem Mund und reagiert auf keine Klingel mehr. Dafür prüft sie den Inhalt ihres Medikamentendosetts im Zwei-Minuten-Takt, solange es in Reichweite ist. Während des Frühstücks schaut sie zig Mal in ihr Portemonnaie, um sich zu vergewissern, dass sie genug Geld dabei hat und ist ganz erstaunt, wenn man vorab den Betrag auf den Cent genau benennen kann. Wirklich anstrengend ist ihre vorwurfsvolle Haltung, wenn man einfach um Ecke kommt, ohne sie zu begrüßen – egal, wie oft man sich heute schon gesehen und begrüßt hat. Es hat schon etwas von Slapstick. Aber eigentlich wollte ich Ihnen nur von der zerzausten Amsel erzählen, die zum Symbol dieser Herausforderung geworden ist
„Guck, Frau Amsel ist wieder da!“ „Und, wie sieht sie heute aus?“ Ich mache mir wirklich Sorgen um Frau Amsel. „Der Kopf ist ab!“ unkt mein Mann. Und ich habe sofort das Bild vor Augen, wie sie kopflos durch den Innenhof hüpft und versucht, die Regenwürmer mit den Krallen aus der Erde zu pulen. Das wäre zu spät zur Aufgabe der Herausforderung. Also, passen Sie auf sich auf!