Doch kein Jobangebot
Ich bin heute spät dran, alle anderen Familienmitglieder sind schon zu Hause. Die Post liegt ungefiltert auf dem Küchentresen, die Rechnung der Tagespflege ist auch dabei. Sie ist direkt an meine Schwiegermutter adressiert und wird sofort eingehend studiert.
Normalerweise filtere ich Pflegeangelegenheiten vorher heraus, um das Gefühl der Selbständigkeit nicht zu gefährden. Aber aus der Hand mag ich es ihr nicht nehmen. Sie legt die Rechnung bei Seite und wenige Sekunden später wieder zur Hand, immer wieder liest sie es zum Teil laut flüsternd vor und versucht, sich damit auseinander zu setzen.
Ich kann die Atmosphäre gerade nicht gut ertragen und gehe kurz in das anliegende Büro, um den eigenen Posteingang zu prüfen. Ingrid ist gelernte Bürokauffrau, und es fällt ihr schwer, den Papierkram loszulassen. Sie versteht einfach nicht, warum sie das nicht mehr kann, schließlich hat sie das doch gelernt und war immer so gut darin.
Dann steht sie in meiner Tür: „Kann ich Dich mal was fragen?“ Ich lade sie ein und umständlich versucht sie mir zu erklären, was sie da in der Hand hält. Sie zeigt auf den Betrag des Eigenanteils, dann kommt ihre Frage: „Überweisen die das auf mein Konto?“ Sonst lasse ich meine demenziell veränderte Schwiegermutter gern in dem Glauben, normal zu sein, aber diese Bestätigung würde zu weit gehen. Nein, das überweisen wir an die Tagespflege. „Aha?“ kommentiert sie und dampft ohne weitere Rückfragen ab. Das war wohl eine sehr emotionale Information, die nicht mehrfach gebraucht wird.
Sie hat schon oft Andeutungen gemacht, welch wichtige Rolle sie in der Tagespflege spielt. „Die anderen können ja alle nicht mehr, die sind ja alle beklopft“ und dann klopft sie sich mit der Hand mehrfach auf die Stirn. Einmal hat sie ganz geheimnisvoll erzählt, da wäre etwas in der Vorbereitung, aber das sei noch nicht spruchreif. Ihre heutige Frage bestätigt unsere These: sie wartet auf ein Jobangebot der Tagespflegeeinrichtung.
Ein paar Tage später frage ich, wie ihr Tag so war in der Tagespflege, was sie gemacht haben. „Nichts besonderes, ist da ziemlich langweilig…“ sagt sie kurz angebunden. Ich hake nach: Habt ihr heute nicht gekocht? Entrüstet guckt sie mich an. „Nee, das mach ich nicht mehr. Sollen die sich doch jemand anderen suchen dafür!“ Es ist doch bloß Betreuung und kein Job, was für eine Enttäuschung.